Bereit sein ist alles



"Um einen Liebesbrief zu schreiben, musst du anfangen, ohne zu wissen, was du sagen willst, und endigen, ohne zu wissen, was du gesagt hast."
Jean-Jacques Rousseau



Faltblatt zur Werkschau des Iskender-Theaters: "The readiness is all"

Gabi Delgado: Und was ist Dein Konzept?
Harry: Konzept?
Gabi Delgado: Ja!
Harry: Mein Konzept heisst kein Konzept.
Gabi Delgado: Finde ich gut.

Aus: "Verschwende deine Jugend"


Manche Dinge im Leben begleiten Dich wie ein musikalisches Thema.

Von Herbst 1996 bis in den Sommer 1997 besuchte ich ein Studienjahr in der Schweiz und verliess die Inselrepublik im Herbst desselben Jahres wieder Richtung Finnland. Ofer lernte ich im Studienjahr kennen und obwohl mir weite Teile unserer Studieninhalte fremd geblieben waren, war in den neun gemeinsamen Monaten doch so etwas wie eine gemeinsame, vertieftere Sprache entstanden. In meiner Abwesenheit nahm das von Ofer initiirte "Iskender-Theater" im Sommer 1997 desselben Jahres seine Arbeit auf. Es entstand das 60 minütige Stück "Iskender", nach dem gleichnamigen türkischen Märchen in der Bearbeitung von Elsa Sophia Kamphoevener. Nachdem ich im Winter 1997 wieder aus Finnland heimgekehrt war, traf ich Ofer zufällg in Berlin. Dort erzählte er mir von seinem Plan, die Arbeit des "Iskender-Theaters" fortzusetzen. Er wollte mit seinem prozesshaften Ansatz, der von dem franko-kanadischen Theaterregiseur Robert Lapage beeinflusst war, ein weiteres Stück auf die Bühne bringen. Ofer hatte eine echte Vision vom Theater und wie es sein sollte:

"We don´t lead our production to a given place. We let the production guide us there. We try not to force our ideas, our concepts, on to it; the show has its own logic, poetry, rhythms, that we discover. This is as true for a newly created work as it is for an established play. One of the big failings among theatre directors in the second half of the century is there tendency to impose elaborate and very detailed directional plans on their plays from the start. Each new directional idea has to be neutral enough to allow the meaning of the play to emerge on its own."

Aus: "Connecting flights" Robert Lepage

Ich hatte Zeit, mich auf dieses Experiment einzulassen und die stets vorhanden gebliebene Zuneigung zum Theater machte mir die Entscheidung leicht. Ich kehrte in die Schweiz zurück. Eigentlich sollte ich Mädchen für alles sein und eigentlich war der Plan, dass es keinen Plan gab. Beides sollte sich bewahrheiten.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals vorne an der Theaterrampe wohl gefühlt habe und ich habe großes Verständnis für jeden, dem es ebenso ergeht. Aber die Umstände erforderten, dass ich schauspielern sollte. Wir waren zu zweit und mussten Leute suchen und einer von uns beiden musste neben der Regie den Probenraum besetzen. Das war ich. Etwa ein Dutzend Leute schleusten wir durch unsere täglich mehrstündigen Proben und ich war das Kontinuum im Proberaum. Keiner von uns hatte Geld und wir mussten nebenher unseren Lebensunterhalt verdienen. Lebensinhalt war das Iskender-Theater. Ständig waren wir auf der Suche nach Proberäumen und Leuten. Es zog sich hin. Das Iskender-Theater war von Anfang an groß gedacht worden. Ich sollte, sobald wir 5-10 professionelle Schauspieler und Musiker beisammen hatten, von der Bühne verschwinden. Dazu kam es leider nie. In der Zwischenzeit improvisierten wir. Menschen, die kamen, brachten Monologe, Gedichte und Lieder mit und dann verschwanden sie wieder. Ihre Monologe, Gedichte und Lieder blieben und wurden im weiteren Verlauf zum Gegenstand unserer Proben. Plötzlich, wie durch ein Wunder, hatte ich Hamlets "To be or not to" an der Backe, den wohl schwersten Theatermonolog überhaupt. Der Inhalt des Monologs wurde nun mein täglich
Brot, "not to be" vor allem. Ausserdem durfte ich die Passage des Löwen aus Shakespeares Sommernachtstraum spielen. Den hatte ich schon in der Schule spielen dürfen:


8. Klasse: Gut gebrüllt Löwe!

Überhaupt macht man theatertechnisch in manchen Schulen so einiges mit. In der 10. Klasse z.B den "Doctor Faustus" von Christopher Marlowe. Auf Englisch oder einer Sprache, die wie Englisch anmutete. Dem Bild unten nach zu urteilen durfte ich den "Old man" spielen:

OLD MAN: Ah, Doctor Faustus, that I might prevail
To guide thy steps unto the way of life,
By which sweet path thou mayst attain the goal
That shall conduct thee to celestial rest!


Vor der Aufführung: Herr Stimming klebt dem "Old man" einen Bart an.

My english was unterste Schublade. Really. Meinen Text verstand ich weder den Worten, geschweige denn dem Sinn nach. Auswendig gelernt hatte ihn mein "Autopilot". Bei den Aufführungen ging ich wie ein Schlafwandler auf die Bühne, verlor dort im Scheinwerferlicht gänzlich das Bewusstsein und wachte erst hinter der Bühne im Dunklen wieder auf. Einen Notarzt brauchte ich nicht. Es hiess später, alles sei in Ordnung gewesen. Wer auch immer die Rolle auf der Bühne durchgezogen hat, ich hatte wirklich nichts damit zutun.

1988, in der 12. Klasse, ging es mit dem "Belagerungszustand" von Albert Camus weiter. Trotz "Rotkäppchen" im Vorschulalter: mein Interesse für das Theater war bereits geweckt worden. 1986 wurden wir von unserer Klassenbetreuerin wohlwollend und wohlwissend ins Bochumer Schauspielhaus geschleift. Wir mussten uns "John Lennon" in der Inszenierung von Claus Peymann ansehen. Im Anschluss daran sah ich mir das Stück 6 mal in der Folge an. Dann wechselte der Intendant. Peymann ging nach Wien und mit Peymann ging auch "John Lennon". Steckel kam und mit ihm kam Andrea Breth. Ihr Theater war reine Magie:


Aus "Neun Jahre Schauspielhaus Bochum". Wolfgang Michael und Annelore Sarbach in "Süden" von Julien Green. Regie: Andrea Breth.

Was sie in ihren äusserst zurückhaltenden und strengen Inszenierungen vollbrachte, dürfte wohl am ehesten mit dem zu vergleichen sein, was die alten Griechen beim Besuch ihrer Tragödien durchmachen sollten. Kaum hob sich der Vorhang, war man in die Geschicke der Menschen auf der Bühne verstrickt. Es entstand eine Art Sog, der einen durch die Schleier der äusseren Ereignisse ins Innere des seelischen Geschehens zog. Was auf der Bühne geschah, war identisch mit dem, was das eigene Leben darstellte, was man augenblicklich selbst durchlebte. Die tiefen inneren Erlebnisse beim Durchleiden ihrer Inszenierungen lagen immer jenseits des Intellekts. Sie lagen dort, wo das Reich der Kunst beginnt. Senkte sich der Vorhang wieder, war man vollkommen umgekrempelt. Man war ein anderer Mensch geworden. Kein Film konnte das. Nie wieder habe ich reineres und schöneres Theater erlebt als hier. Sozialeres Theater schon.

1988 verliess ich Bochum und das Bochumer Schauspielhaus. 1993 kehrte ich zurück. Das Theater hatte mittlerweile an Faszination eingebüsst. Was mich an den auswärtigen Bühnen zutiefst frustierte, das war ihre zunehmende "Verweltlichung". Man zeigte plötzlich möglichst krassen Alltag, wie man ihn auch der Tageszeitung entnehmen konnte. Arbeitslose und Missbrauchsopfer bevölkerten die Bühne. Als Folge davon fürchtete das sozialmarode SPD-Theater zurecht um seine Zuschauer. Es wurde immer lauter und hektischer auf der Bühne. In jeder 3. Inszenierung wurde geschrien, die Stücke und Dialoge wurden zerhackt, die armen Schaupieler wälzten sich im Dreck oder provozierten die Zuschauer auf Anordnung der Regie irgendwie anderweitig. Das Theater, das eigentlich eine innerliche Form der Kunst ist, wurde immer äusserlicher.
Zur Erholung von diesem Zirkus inszenierte Gehrke-Tschudi im Rahmen einer Jahresarbeit "Hamlet" an der Waldorf-Schule und ich durfte im ersten Aufzug in der Mondscheinnacht Wache halten.
1995. Steckel verlies das Bochumer Schauspielhaus und unser tolles, buntes Riesenensemble sah sich seine Abschiedsinszenierung an: leere, schwarze Bühne, "Hamlet", ungekürzt.
Leander Haußmann kam. Die Inszenierungen hatten plötzlich den Charme und die Beweglichkeit von Kindergeburtstagen, genau die Art, die man auch aus Haußmanns Filmen kennt. Unterhaltsam sind seine originellen Typen immer...
Hier schliesst sich der Bogen: 1996 kam das Iskender-Theater.
Schliesslich, im Frühjahr, 3 Monate nach Beginn unserer Proben, waren wir eine Gruppe von fünf Personen: Christoph, Janine, Ofer, ich und ... Susan. Susan sprach englisch. Von nun an mussten wir uns der Weltsprache unterwerfen. Ofer brachte schliesslich alle Bruchstücke in eine Form:


Rembrandt, Pallas Athene - Alexander der Große

"Take dutch painting. What makes a Rembrandt painting rich is its accumulation of quite different layers. It becomes a little like a color photographic plate, on which the pigments of three primary colors are set successively, so that the overall effect is achieved through layering. The color chemistry in Rembrandts paintings follows a similar procedure. For example, he might paint a first image entirely in shades of red, then work with other series of colors. The viewer doesn´t see the red but can feel its effect on the top layers. So the same subject is painted in five, six, seven layers before you even get to the final product. It´s not just pasted on in one throw."

Aus: "Connecting flights" Robert Lepage

Wir führten unseren "Rembrandt" auf, jeder nach seinem besten Vermögen.
Im Anschluss sollte die Sache richtig Fahrt aufnehmen. Wir schrieben Schauspielschulen an. Wir organisierten ein Wochenende mit 12-15 Schauspielern. Und hatten am Ende 4-5 Leute, davon 2 oder 3 Abgänger von Schauspielschulen, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hatten. Klar war, dass wir nun ausschliesslich Theater machen wollten und dass wir der ganzen Truppe finanziell den Rücken freihalten mussten. Wir bekamen sofort das Problem, das heute jeder freischaffende Künstler hat, der ohne klares Konzept auf Fördertöpfe zurückgreifen will:

"Producers want to know increasingly early how we will stage a play, what conceps will underlie the way it is directed. So we start putting forward concepts that can be very interesting, but that imprision the play instead of freeing it. This way, the ideas behind a show can become more interesting than the show itself."

Aus: "Connecting flights" Robert Lepage

Kein Konzept heisst also kein Geld. Wer heute seinen Intellekt nicht vor den Karren der Kunst oder das Soziale spannen will, darf in der Diaspora tätig werden. Wir improvisierten also notgedrungen weiter. Wir beprobten Dachböden, Kulturzentren, Schulräume und landeten schliesslich in Zürich in einer Schule. Wir folgten dem gleichen Prinzip der ersten Produktion. Wir sammelten Material, wir arbeiten mit unserem mitgebrachten Wissen und Können. Täglich fuhren wir von Basel nach Zürich und zurück. Nach einiger Zeit erwachte der Unmut. Vor allem die ausgebildeten Schauspieler wollten fertige Stücke oder Konzepte und eines Tages, nach einer kurzen und heftigen Aussprache, löste sich das Iskender-Theater wie in einem Lehrstück über Gruppendynamik restlos auf. Ich arbeitete noch ein halbes Jahr an einer Schweizer Bühne, schob Kulissen und stellte selbige her. Gespielt wurde wieder einmal "Faust".
Nicht unweit davon spielte eine ganz andere verschworene Gemeinschaft ebenfalls "Die Historie des Dr. Faust". Das Marionettentheater "Blaue Blume" hatte sein Domizil im Industriegebiet Dreispitz zwischen Arlesheim und Basel aufgeschlagen. In einem großen Raum stand die gewaltige Bühne für die etwa einen halben Meter großen Marionetten. Hinter der Bühne war ausreichend Raum für die Fädenzieher vorhanden. Alisa schleppte mich eines Tages dort hin, sie malte u.a die Bühnenbilder für das Theater und gestaltete das Programmheft:


Das Programmheft "Blaue Blume" 1999.

Da gerade geprobt wurde und es keinen Beleuchter gab, setzte ich mich ganz selbstverständlich hinter das kleine Mischpult und war von nun an für das Licht zuständig. Auch diese, von Thomas Meier geleitete Gruppe bestand aus freiwilligen Laien, die ihre knappe Zeit im weitesten Sinne der Kunst des Marionettenspiel widmeten. Die Atmosphäre in diesem Probenraum war hoch konzentriert, von unendlicher Ruhe getragen und trotzdem zum Schneiden dicht.
Die Art, wie hier gearbeitet wurde, erinnerte manchmal an die Arbeitsweise eines Biens. Jeder im Raum hatte sein Aufgabe, die er, ohne darauf angesprochen werden zu müssen, erledigte. Obwohl viele Hände involviert waren, arbeiten alle Hände zusammen als gehörten sie zu ein und demselben Organismus. Das periphere Zusammenarbeiten aller Teile zu einem gemeinsamen Zentrum hin war hier immer wieder zu erleben. Wie zu Beginn des "Faust" lag auch um diese Menschen herum ein Hauch von Alchemie, wahrhafter Alchemie, der unendlich bemüht war, den hölzernen Puppen durch Bewegung und Sprache Leben einzuhauchen. Wenn das gelang, so transformierte sich die kleine Bühne mit ihren Puppen und wurde zum Fenster mit Ausblick in eine andere Wirklichkeit. Die Wirkung, die der Eindruck der sich gelegentlich verlebendigenden Puppen auf den Betrachter auslöste, war eine ähnliche, wie diejenige, der von den Breth´schen Inszenierungen ausging. Aber was hier sichtbar wurde hatte mehr mit dem Stoff der hölzernen Puppen zu tun. Die manchmal fast überwältigende Faszination lag darin, dass sich das Tote verlebendigte, dass sich durch die an sich tote Materie Lebendiges auszusprechen begann. Gemeinsam war beiden Meistern ihrer Kunst, dass sich durch den sinnlichen Eindruck hindurch mit aller Kraft Nichtsinnliches offenbarte. In dieses Nichtsinnliche konnte der Betrachter mit seinem ganzen Wesen eintauchten ohne vor den sinnlichen oder intellektuellen Eindrücken stehenbleiben zu müssen.
Meine Aufgaben in der Schweiz waren erfüllt. 1999 zog ich in kulturelles Niemandsland. Entsprechend ernüchternd waren hier die Errungenschaften des Geisteslebens. Hier gab es das Bauerntheater. Neben der freiwilligen Feuerwehr und der Blaskapelle ist das Laientheater einer der sozialen Treffpunkte, in denen die Menschen aus den Dörfern sich jährlich immer wieder auf´s neue versammeln. Meistens beginnen die Proben im Frühherbst, aufgeführt wird um die Weihnachtszeit. Im Publikum wird während der Aufführungen reichlich alkoholisches konsumiert und in den Pausen wird gegessen, getreu dem Motto: erst Kunst und dann Nusseis. Wer einmal Mitglied in einer Theatergruppe ist, der bleibt es in der Regel über viele Jahre. Die Rollenbesetzungen und das Bühnenbild verändern sich kaum. Das gilt auch für die Wahl der Stücke. Sie sind komödiantische Abziehbilder der Dorfgemeinschaften. Es tritt der Bürgermeister auf, der wohlhabende Bauer, der untreue Ehemann, der jugendliche Liebhaber usw. Gespielt wird in Mundart, also auf schwäbisch. Auf die Annonce einer Tageszeitung hin bewarb ich mich bei einem Laientheater und durfte dort im selben Jahr zum ersten Mal den jugendlichen Liebhaber geben. Als "Neigschmeckter" dürfte mein gebrochenes Schwäbisch im Publikum für mehr als nur Kopfschütteln gesorgt haben. " The Old Man" sprach wieder einmal in fremder Zunge. Wäre Wolfgang nicht zu unserer Truppe gestossen, es wäre vermutlich bei dem einen Gastspiel geblieben.
Aber Wolfgang war ein Mann des Theaters. Er erklärte sich bereit, die Regie für das kommende Stück zu übernehmen. Ich musste B sagen und wieder in die Rolle des jugendlichen Liebhabers "schlüpfen". Dafür zeigte mir Wolfgang nebenbei, wie man auf ganz konventionelle Weise Regie führt. Er führte in einer Szene eine Fliegenklatsche ein, die dann, obwohl gar nicht Teil der Regieanweisung des Stückes, plötzlich zu einem spielerischen Nebenschauplatz der Handlung wurde. Mir wurde zum ersten Mal klar, dass das zu spielende Stück und die Umsetzung des Stückes ins Spiel zwei vollkommen getrennte Arbeitsfelder sind, die in der Regie erst zusammengeführt werden müssen. Was man gewöhnlich eine Inszenierung nennt, ist die Umsetzung von Inhalt und Sprache mit Hilfe eines Darstellers in darzustellende Handlung. Obwohl ich bereits etlichen hundert Theateraufführungen beigewohnt hatte, sogar Regieanweisungen entgegengenommen hatte, war mir dieser Aspekt nie wirklich klar ins Bewusstsein getreten. Ich hatte Stück und Spiel immer als untrennbare Einheit gesehen. Das bedeutet nicht, dass ich nicht bei manchen Aufführungen die Handlungen auf der Bühne als unpassend oder als dem Stück übergestülpt empfand. Es bedeutet schlicht, dass mir die Rolle des Regisseurs im Theater über ein Jahrzehnt hin verborgen blieb. Diese Tatsache ermöglichte es mir, in die Handlungen der Stücke eintreten zu können, nicht vor ihnen stehen bleiben zu müssen. Gleichzeitig beleuchtet sie die Aufgabe des Regisseurs: er muss in der Inszenierung vollkommen verschwinden. Im Schülertheater gibt es die häufig gehörte Warnung an die Darsteller, sich nicht "in den Vordergrund zu spielen". Regisseure hingegen werden heute geradezu dazu angestiftet, ihren Inszenierungen den persönlichen, unverkennbaren Stil einzuprägen. Das führt zu einem Theater, in dem der Schauspieler nur noch eine Marionette der Vorstellungen des Regisseurs ist. Dabei sollte der Regisseur ein Priester sein, der, im Bilde gesprochen, als Bindeglied zwischen dem Geist und der Gemeinde eine dienende Funktion einnimmt und lediglich Sorge zu tragen hat, das sich der Geist im Vehikel des Darstellers verkörpern kann.
Wolfgang ging. Für einen dritten Aufguss des jugendlichen Liebhabers fehlte mir die Motivation. Mein Versuch, die Laiengruppe für Nestroy oder Moliere zu begeistern, scheiterte. Ich übernahm stattdessen die Jugendgruppe. Auch hier war die Bereitschaft zu Experimenten nicht vorhanden. Ich brach die Angelegenheit in die Realität hinunter. Ich schrieb einen kleinen 15-minütigen Dialog zwischen zwei Putzfrauen, Requisiteuren und einem Hausmeister, die vor der Aufführung des Stückes den vollbesetzten Theatersaal vorzubereiten hatten und sich über das im Weg stehende Publikum beschwerten.
Dann verlor sich die Spur des Theater über viele Jahre und die Bilder, vorallem die bewegten, traten in den Vordergrund.
Dann, eines Abends vor 2 oder 3 Jahren, wurde ich an einer Strassenecke abgefangen. Es war Winter, das kalte Licht der Strassenlaterne schälte unsere Gestalten aus der Dunkelheit. "Das was hier geschieht, was erlebt wird, sollte irgendwie mit unseren Gästen in theatralischen Prozessen zur Darstellung gebracht werden."
Ich grübelte lange nach. Ich suchte nach einer Form. Ich arbeitete gedanklich eine zeitlang mit dem "Theater auf dem Theater"-Stück "6 Personen suchen einen Autor" von Luigi Pirandello. Es fehlte der Impuls. Letztes Frühjahr traf ich Ofer in Colmar und sah seine letzte Produktion, einen wunderbaren kleinen "Rembrandt". Seiner Arbeitsweise ist er kompromisslos treu geblieben. Einige Monate später lernte ich Frank kennen, der auf ein langes Theaterleben zurückschauen darf und der sich nun dem Schreiben zugewendet hat. Ich begann ein Stück zu suchen, fand es, verwarf es wieder. Gäste kamen und gingen.
Und da fiel es mir wieder ein:

Das Iskender-Theater

Menschen, die kommen, bringen Monologe, Gedichte und Lieder mit und dann verschwinden sie wieder. Ihre Monologe, Gedichte und Lieder bleiben und werden im weiteren Verlauf zum Gegenstand unserer Proben. Plötzlich, wie durch ein Wunder, hat irgendjemand Hamlets "To be or not to" an der Backe, den wohl schwersten Theatermonolog überhaupt. Der Inhalt des Monologs wird nun unser tägliches Brot, "not to be" vor allem...

Die Strasse gleitet fort und fort, weg von der Tür, wo sie begann,
weit über Land, von Ort zu Ort.
Ich folge ihr, so gut ich kann. Ihr lauf ich raschen Fusses nach,
bis sie sich groß und breit verflicht.
Mit Weg und Wagnis tausendfach. Und wohin dann?
Ich weiß es nicht.

Tolkien