Teacup Storm - Ein Essay

Wie erleben wir die Welt als Sehende, wenn wir plötzlich nicht mehr sehen können? Was macht unser Bewusstsein mit den nun aufgenommenen Eindrücken der Welt?

Am dritten November 2012 war das Wetter noch ungewöhnlich mild für diese Jahreszeit. Als wir mittags in Gröbenzell bei München eintrafen, um Esme Brooker abzuholen, schien die Sonne durch das üppige und farbenprächtige Herbstlaub der Alleen. Es wehte ein starker, warmer Föhnwind, der erst gegen Abend hin etwas nachliess. Der Wetterbericht hatte am Vortage Regen vorausgesagt, keine gute Voraussetzung für unser nächtliches Experiment auf freier Wildbahn. Als wir nach zwei Stunden Autofahrt in Stuttgart eintrafen, bedrohten uns im Westen, von Frankreich heraufziehend, bereits die ersten grauen Wolken, die vorerst kontinuierlich nach Nordosten abzogen. Esme bekümmerte dies zu diesem Zeitpunkt wenig, denn ihre Augen waren seit Gröbenzell mit einem Tuch verbunden und ihr selbst unser derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Esme, Architekturstudentin der Glasgow School of Art, wollte in Begleitung von Hannah Hurst, Jaakko Aspokala und mir den restlichen Nachmittag und die Nacht über einige architektonisch markante Orte in Stuttgart besuchen und so viele Eindrücke jenseits der Sehwahrnehmung einsammeln wie möglich. Einen Schwerpunkt wollte sie darauf setzen, in ihrer Vorstellung aus dem Erlebten ein möglichst klares Bild ihrer erfahrenen Umgebung entstehen zu lassen. Diese Bilder wollte sie im Anschluss zu Papier bringen und beschreiben. Ebenfalls zu unserem gemeinsamen Ziel gehörte es, die gesammelten Eindrücke in Ton und Bild auf Video festzuhalten und später zu bearbeiten.


Esme: "Vor dem Beginn des Zeichnens hatte ich keine besonderen kompositorischen Pläne was letztendlich auf dem Papier in Erscheinung treten sollte. Ich hatte mir zuvor ein paar Notizen gemacht, und meine Absicht war, zu versuchen, einige mir wichtig erscheinende Aspekte meiner Erfahrung an jedem Ort als Detail oder Zusammenhang darzustellen. Eine zusammenhängende Bildkomposition war mir nicht wichtig. Es war vielmehr ein fließender Arbeitsprozess, wobei jeder Schritt beim Zeichnen von dem vorherigen eingeleitet wurde, bis zu dem Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, dass die jeweils wichtigen Aspekte jedes besuchten Ortes ausreichend hervorgehoben waren."

Trümmerfeld Birkenkopf

Esme, Hannah, Jaakko und ich stapften den Birkenkopf hinauf, jenen Hügel im Süden Stuttgarts, der nach dem 2. Weltkrieg um 40 m mit den Trümmern der 1945 zur Hälfte durch Luftangriffe zerstörten Stadt erhöht wurde. Heute ist der Ort eine Gedenkstätte und ein beliebtes Ausflugsziel der Ortsansässigen Bevölkerung. Von hier aus kann man den größten Teil Stuttgarts bis weit hinaus in die Aussenbezirke überblicken.


Der Höchste Punkt des Birkenkopfs ist übersät mit den Schuttresten der überwiegend im klassizistischen Stil gehalten Fassadenelemente der ehemals so prunkvollen Stuttgarter Innenstadt; Ein Trümmerhaufen der Architektur und Zeugnis kalter menschlicher Zerstörungswut. In der achtsamen Begleitung von Hannah galt es für Esme, in diesen Steinhaufen tastend, eine innere Vorstellung in sich heranzubilden, von dem Ort, an dem sie sich befand. Für grosse Irritation sorgten die in die Trümmerteile eingelassenen Stahlarmierungen, die ein Verrutschen der gewaltigen Steinblöcke verhindern sollen; Für den Besucher, der sehen konnte, eine durchaus beruhigende und Sicherheit vermittelnde Massname der Gestalter dieses Ortes. Am etwa 10m in den Himmel hinaufragenden Gipfelkreuz aus Stahlträgern zeigte sich zum ersten Mal deutlich, wie der fehlende Sehsinn unsere Erfahrung auf den Raum begrenzt, der für unseren Körper noch zu erreichen ist. Nur der Sehsinn erschliesst uns hier die über unsere eigene Physis hinausragende Gegenständlichkeit der Welt. Ferner zeigte sich, dass das schnelle Erfassen des Ortes als zusammenhängender Raum schwierig war. Die Welt zerfällt in einzelne Sinneswahrnehmungen, die sich in ihrer Bruchstückhaftigkeit nur mühsam zu einem Eindruck des ganzen Zusammenhangs der Dinge im Raum zusammenfassen lassen.

"Die erste Station, der Birkenkopf, war der schwierigste Ort, um zu einem Verständnis meiner Umgebung zu gelangen. Dies ist vielleicht auch der Tatsache zuzuschreiben, dass es der erste Ort war, den wir aufgesucht haben. Ich war noch wenig geübt in der Fortbewegung mit verbundenen Augen im freien Raum. Der Birkenkopf war auch der einzige Ort, an dem ich in ständigem körperlichen Kontakt mit meiner Begleitung stand, wegen der dem Gelände innewohnenden Gefahren. Dies führte mich nicht immer über einen selbst gewählten Weg über das Gelände, der in den später besuchten Stationen meine wichtigste Orientierunghilfe zur chronologischen Entwicklung meiner Vorstellungen und Zeichnungen war. Ich machte meine Erfahrungen bezogen auf die Orientierung im Raum nicht wirklich selbst, sondern mit einem Anderen zusammen. So waren die Eindrücke in dem Meer aus Stein, die ich an diesem Ort sammelte, verschwommen und ohne Kontur."


"In dem Film 'Teacup storm' wird darauf verwiesen, dass der Mangel, die Dinge sehen zu können, dazu führt, dass man zu den Dingen in direkten Kontakt treten muss, sie also an ihrer jeweiligen physischen Grenze erleben muss, um zu einer vagen Vorstellung des Gegenstandes zu kommen. Am Birkenkopf war die Grenze des Raumes (jenseits der Begrenztheit der Dinge) auch eine geographische Grenze, nämlich ein Steilufer, das in die Tiefe führte, an dessen Rand ich trockene Blätter unter den Füßen fühlte und hörte wie der Wind aus dem Abgrund herauf durch die Bäume pfiff."


"Aufgrund der Ähnlichkeit der einzelnen erfahrenen Gegenstände die ich erkundete und die ich für Felsen hielt (Mir war nicht bewusst, dass es sich um architektonische Fragmente handelte), verlor ich jeden Sinn für die eingeschlagene Richtung und für die Lage der Dinge im Raum. Die Einschränkungen des Verständnisses meiner Umgebung aufgrund der begrenzten Reichweite meiner Sinneswahrnehmung war am Birkenkopf besonders relevant. Denn die Landschaft rund um den Hügel reichte bis an den Horizont. Dass der vertikal aufstrebende Stahlpfosten auf dem Hügel ein Gipfelkreuz war, darüber konnte ich nur spekulieren."



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