Die Würde des Menschen



Die Würde des Menschen ist (un) antastbar! Zum 75. Geburtstag von A. B. H.





Im ersten Artikel unseres Grundgesetzes heisst es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieses erste Grundrecht des Menschen ist die Wurzel unserer Verfassung, von der sich alle anderen Grundrechte ableiten und an der sich unsere ganze weitere Gesetzgebung messen lassen muss. Die Würde des Menschen zu achten ist also das Fundament auf dem unser Staat, ja in gewisser Weise sogar ein großer Teil unserer heutigen Weltordnung aufgebaut ist, wenn wir die allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht als ein blosses Lippenbekenntnis auffassen wollen. Dass wir immer wieder erleben, dass diese, dem Menschen zugestandene Würde grundlegend missachtet wird, ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Menschheit dieses Ideal vorangestellt hat, das sie zu verwirklichen sich selbst gesetzt hat. Schon diese Tatsache als solche, wirft ein Licht auf die Frage, was denn eigentlich mit dem Begriff der Würde gemeint sein könnte. Denn der Begriff der Würde ist für die Menschen heute ebenso diffus geworden, wie viele der anderen Begriffe, die der Welt des Idealen entnommen sind. Begriffe z.B, die den Tugenden zuzuordnen sind, wie Demut, Mildtätigkeit oder Mässigung, gelten heute oft als überholt, weil die Formen und Inhalte auseinander gebrochen oder teilweise verloren gegangen sind. Dabei wird häufig vergessen, dass unsere ganze gesellschaftliche Ordnung bis in unsere Verfassung hinein, eben genau auf diesen, über die Jahrhunderte gewachsenen Inhalten aufgebaut ist. So hat auch das Verständnis davon, was eigentlich die Würde des Menschen ist, eine Entwicklung durchlaufen. Zwar kannten die Griechen und Römer durchaus den Begriff der Würde als Ausdruck einer Person oder eines Amtes, sahen sie aber vielmehr als etwas an, das man sich im Laufe des Lebens erwarb, oder, das man Kraft eines Amtes besass. Dass man dem Menschen Würde als Wesensmerkmal bereits von Geburt an zuzurechnen habe, oder dass es gar einen Rechtsanspruch auf Menschenwürde geben könnte, davon waren sie noch weit entfernt. In der christlichen Weltauffassung wurde die Würde zu einem selbstverständlichen vor-konstitutionellen Wesensmerkmal aller Menschen, das sich daraus ableitete, dass der Mensch einen gemeinsamen Ursprung in Gott hat und sich als gottgewolltes Wesen seinem Ursprung wieder in Freiheit zuzuwenden bestrebt ist. Erst die Aufklärung machte die Würde zu einem Gegenstand philosophischer Betrachtung. Sie löste den Menschen wieder aus seinem göttlichen Zusammenhang heraus und begründete die Würde des Menschen auf seiner Fähigkeit in Freiheit vernünftig und moralisch handeln zu können. Eine Fähigkeit, die ihn vom Tiere grundlegend unterscheidet. Sie verlagerte den Gott von Aussen in das Innere des vernunftbegabten Menschen hinein. An der Tatsache seiner angeborenen Würde änderte dies jedoch nichts. Nach Kant hat der Mensch von Geburt an einen unvergleichlichen Wert oder eben die vom Wort Wert abgeleitete Würde als Wesensmerkmal an sich, die über jeden Preis erhaben ist. Darüber hinaus ist sein Wert aber auch in seiner Freiheit als ein sich selbst gestalten-könnendes Wesens begründet. Schiller, noch stark von Kant beeinflusst, charakterisierte den Begriff der Würde und ihren Ursprung in seinem philosophischen Aufsatz "Über Anmut und Würde" wie folgt: " Die Beherrschung der Triebe durch moralische Kraft ist Geistesfreiheit und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung." Schiller gesellte in diesem Vorspiel zu seinen späteren "ästhetischen Briefen" dem Begriff der Würde, den Begriff der Anmut hinzu. Damit entwaffnete er all diejenigen Pharisäer, die sich Würde als bloss äussere Form wie ein Kleid überzuwerfen gedachten, ohne dabei mit den inneren Aspekten der Würde verbunden zu sein. Denn Würde ist etwas Innerliches, im Gegensatz zur Ehre, die etwas nach aussen hin darstellen möchte, die, um vorhanden zu sein, andere benötigt, die sie bezeugen.
An anderer Stelle seines Aufsatzes heisst es darum: " Würde allein beweist zwar überall, wo wir sie antreffen, eine gewisse Einschränkung der Begierden und Neigungen. Ob es aber nicht vielmehr Stumpfheit des Empfindungsvermögens (Härte) sei, was wir für Beherrschung halten und ob es wirklich moralische Selbsttätigkeit und nicht vielmehr Übergewicht eines andern Affekts, also absichtliche Anspannung sei, was den Ausbruch des Gegenwärtigen im Zaum hält, das kann nur die damit verbundene Anmut außer Zweifel setzen. Die Anmut nämlich zeugt von einem ruhigen, in sich harmonischen Gemüt und von einem empfindenden Herzen." Die Würde des Menschen tritt also Schillers Ansicht nach dann vollkommen in die Erscheinung, wenn sie mit der Anmut im Gefolge auftritt.
Aber manchmal zeigt sich die Würde des Menschen auch gerade dort, wo Anmut keinen Raum für ihre Entfaltung findet; In der tiefsten Not, wenn es um das Überleben geht. Wenn alles Andere verloren ist, ist das Einzige, auf das wir uns noch sicher zumindest vor uns selbst berufen können, unsere Würde als Mensch. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bot viel Raum für diese Erfahrung. Meistens finden wir in dieser Art Erfahrung der Menschenwürde diese vereint mit menschlichem Mut und moralischer Standhaftigkeit. Wieso ist das so? Weil die menschliche Würde grundsätzlich durch Opfer erworben wird. Opfer auch in der Art, dass Menschen dem Strom der Unmenschlichkeit die Menschlichkeit entgegenstellen und damit ihr Leben auf´s Spiel setzen. Entscheidend ist, dass die Seele sich selbst etwas abringen musste, um sich über den blossen Naturzustand zu erheben. Eine Hinopferung des Niederen durch ein höheres Prinzip, das nicht von Natur aus Teil des Menschen ist, sondern der Sphäre der Ideale entnommen ist, derer wir alle teilhaftig sind. In Schillers Aufsatz heisst es hierzu: „Das Tier muss streben, den Schmerz los zu sein; der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten. Der Wille des Menschen ist ein erhabener Begriff, auch dann, wenn man auf seinen moralischen Gebrauch nicht achtet. Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Tierheit; der moralische erhebt ihn zur Gottheit."
Dass Würde auch als ein Rechtsanspruch eines jeden menschlichen Individuums angesehen wird, ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, in der die Menschheit durch die Erfahrungen der Barbarei zweier Weltkriege erleben musste, wie die Menschenwürde mit Füssen getreten wurde. Aber warum muss die Würde des Menschen geschützt werden, wenn sie doch, wie es im Grundgesetz heisst, unantastbar ist? 
Nicht jedem Menschen schreiben wir Würde zu, auch wenn wir wissen, das jeder Mensch Würde hat. Warum? Die Würde ist, sofern wir bedenken, dass wir in einem Staate leben, der fundamental auf christlichen Werten aufgebaut ist, eine als selbstverständlich angenommene Wesensanlage des Menschen, die wir von Geburt an in uns tragen, oder, wenn man so will, die uns allen von Gott gegeben ist. "Der Begriff Würde (lateinisch: dignitas) bezeichnet die Eigenschaft, eine einzigartige Seinsbestimmung zu besitzen" (Wikipedia). Das heisst jedoch nicht, dass der Mensch dieser Seinsbestimmung auch gerecht zu werden braucht. Das sehen wir daran, dass die Würde weder im Staate noch im Individuum notgedrungen verwirklicht ist, auch wenn wir ihr Vorhandensein als selbstverständlich voraussetzen. Es steht uns frei, sie zur Entfaltung zu bringen oder sie unbeachtet zu lassen. Würde zur Entfaltung zu bringen ist also im Sinne des Grundgesetzes in erster Linie ein Gestaltungsauftrag, den der Staat in der Erziehung seinen Bürgern gegenüber hat; Aber Würde zu entwickeln ist auch ein Gestaltungsauftrag, den wir als eigenverantwortlich handelnde Wesen uns selbst gegenüber haben. Würde in sich zu tragen heisst, in sich die Anlage zu tragen, moralisch handeln zu können, oft auch gegen alle Vernunft. Denn in dem wir aus freier Entscheidung heraus moralisch handeln, heben wir uns aus dem Naturzustand dieser Welt heraus. 

Wenn wir einen Menschen würdigen, so tun wir das, weil wir erleben, dass durch diesen Menschen etwas in die Welt getreten ist, das in diesem Menschen als natürlicher Zustand vorher nicht gegeben war. Er ist anders geworden und ist über sich selbst hinausgewachsen. Er ist moralischer geworden, im tiefsten Sinne. Er hat sich selbst verwandelt und hat dadurch zur Weiterentwicklung dieser Welt und der Menschheit beigetragen.
Aber was zu würdigen ist, weiss nur, wer auch weiss, welche Kräfte aufgewendet werden müssen, um auch nur ein kleines Stück dieser Welt oder des eigenen Menschseins zu verwandeln in etwas Neues, in etwas, das vorher nicht gegeben war. Was im Einzelnen erreicht werden soll und wie viel Kraft für die Erreichung dieser Ziele eingesetzt werden muss, das ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Das zu beurteilen, setzt schon einiges an Menschenkenntnis voraus. Was es heisst ein Leben zu leben, das weiss man als junger Mensch nicht. Woher sollte man es auch wissen. Darum kann man auch nur schwer einschätzen, womit die anderen Menschen ringen, wenn man es überhaupt bemerkt, dass sie es tun, weil man nicht weiss, wie viel Kraft in die Verwandlung des eigenen Wesens hinein fliessen muss, damit die Verwandlung auch tatsächlich gelingt, damit der Mensch sich auch das erwirbt, was als Ideal bereits von Geburt an in ihm veranlagt ist: die Menschenwürde. Würde ist also zum einen etwas Gegebenes, zum anderen etwas Erworbenes. Die Würde, die wir uns im Leben erworben haben, ist Seelisches, das wir durch unsere moralische Kraft verwandelt und ins Geistige emporgehoben haben. Und weil die Würde zwar von Geburt an in jedem Menschen angelegt ist, aber sich erst aus ihm heraus entwickeln muss, deshalb müssen die Verhältnisse im Staate so sein, das die Würde des Menschen, die sich entwickeln soll, sich auch entwickeln kann. Die Würde als Wesensmerkmal des Menschen, also die Anlage des Menschen moralische Kraft entwickeln zu können, die sich in Würde verwandeln kann, ist unantastbar. Sie gehört als Ideal, wie alle anderen Ideale auch, nicht dem einzelnen Individuum, sondern der Sphäre des Geistigen an. Denn: "streng genommen ist die moralische Kraft," sagt Schiller, "im Menschen keiner Darstellung fähig, da das Übersinnliche nie versinnlicht werden kann. Aber mittelbar kann sie durch sinnliche Zeichen dem Verstand vorgestellt werden, wie es bei der Würde der menschlichen Bildung wirklich der Fall ist." Und an anderer Stelle heisst es noch einmal zusammenfassend und Bezug nehmend auf den Zusammenhang von Würde und Anmut: „Anmut ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekt selbst hervorgebracht wird.“ In dem Sinne, dass sie etwas ist, was sich der Mensch erwirbt, ist sie also der Würde durchaus verwandt. Und weiter: "So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung."