Biographiefetzen:







Pankratius 2014


Ruhrgläser 1992 - 2014

Dürnau, 08. Mai 2014


"Dem Prozeß der Kristallisation entspricht in der geistigen Welt als sein Urbild der Übergang von dem formlosen Geistkeim zu dem gestalteten Gebilde. Verdichtet sich dieser Übergang so, das ihn die Sinne in seinem Ergebnis wahrnehmen können, so stellt er sich in der Sinnenwelt als mineralischer Kristallisationsprozeß dar. - Nun ist aber auch in dem Pflanzenleben ein gestaltender Geistkeim vorhanden. Aber hier ist dem gestalteten Wesen noch die lebendige Gestaltungsfähigkeit erhalten geblieben. In dem Kristall hat der Geistkeim bei seiner Gestaltung die Bildungsfähigkeit verloren. Er hat sich in der zustande gebrachten Gestalt ausgelebt."
Rudolf Steiner "Theosophie"

Schaffhausen 21. November 2012

J., M., R. und ich sitzen in Schaffhausen den vierten Tag in Folge in dem gleichen Restaurant. Es ist 20:00 Uhr. Wir sind für heute nicht nur mit der Arbeit fertig, sondern auch mit dem Rest der Welt. Das Restaurant ist gut besucht, überall sitzt junges Publikum. Von unserem runden Eichentisch aus, inmitten des Getümmels, können wir das ganze Geschehen in dem geräumigen Speisesaal überblicken. J. trink sein zweites Bier. Unerwartet in unsere müde Stille hinein sagt er brummend: "Gleich gibt´s Musik". Ich denke, er macht einen Witz und steige darauf ein. Doch plötzlich sehe ich einen Mann und eine Frau mit Gitarren in der Hand im hinteren Teil des Restaurants. Das ungleiche Paar redet mit dem Pächter der Lokalität. Ich versuche zu deuten, was da vor sich geht. Das Gespräch wirkt aus der Ferne nicht gerade so, als hätte man für heute Musik bestellt. Aber der Pächter bleibt auf seine freundliche Art gelassen. Er begleitet die "Musiker" an den Tisch direkt neben uns und nimmt auf englisch die Bestellung für zwei Bier entgegen. Was auch immer los sein mag, es scheint alles ganz normal zu sein. Ich verliere das Interesse an der Szene. Doch plötzlich spricht mich der Amerikaner, - ein Texaner, denke ich sofort -, auf englisch von der Seite an. Er zeigt in unserer Runde auf M. und sagt: "Der gehört nicht zum Club". Mal abgesehen davon, dass der Mann, mit dem exaltierten weissen Stetson, nicht ganz unrecht hat, frage ich zurück, warum. Der Texaner stellt fest: "Der trägt keine Brille" Ich schaue überrascht in die Runde. Stimmt!. J. R. und ich tragen eine Brille, nur M. trägt keine. Nicht schlecht, denke ich. Wie so viele Amerikaner hat der Mann eine gute Auffassungsgabe für nebensächliche Zusammenhänge. Ich zeige auf M und sage zum Texaner: "Dem schlagen wir gleich ein blaues Auge. Dann geben wir ihm eine Sonnenbrille und er gehört auch zum Club". Mein unbeholfener Witz geht unter, ich werde nicht verstanden und dann muss ich den Mist, den ich gesagt habe, auch noch ins deutsche übersetzen. Kaum damit fertig drehe ich mich um und nehme die musikalische Begleitung des Gringos ins Visier. Eine Frau, mitte Vierzig, etwa fünfzehn Jahre jünger als der Texaner, mit freundlichem Gesicht und kultiviertem Äusseren. Eine Schweizerin wie aus dem Reiseprospekt. Seltsames Paar, denke ich. Der Mann, die Frau, die ganze Szene überhaupt hat etwas unterschwellig beunruhigend-befremdliches an sich. So als hätte man "Heres comes Honey Boo Boo" und "Die Schweizermacher" in einen Film zusammengeschnitten. Ich will verstehen und suche den männlichen Hauptdarsteller in der Inszenierung. Der hat mittlerweile ein neues Engagement und ist in einen Smalltalk mit zwei blutjungen Kerlen verwickelt, einige Tische von uns entfernt. Sein Gestus bei der Konversation hat etwas fahrig-lässiges, sein Stetson steht ihm ausgezeichnet. Die übertrieben weit ausladenden Krempen weisen steif nach oben, wie ein chinesisches Dach. Luzifers Erbe. Der Mann hat genau das smarte, lange und faltige Gesicht, das dieser Hut braucht. Der Pächter stellt zwei Stangen Bier auf den Tisch, an dem die weibliche Begleitung des Musikers teilnahmslos sitzt, als hätte man sie in diesem Lehrfilm falsch besetzt. Plötzlich leiert der Texaner wieder sein breitmäuliges englisch an mein Ohr. Ich drehe mich um und der Showmaster prostet unserer Runde mit seinem frisch gezapften Bier zu. Davon dürfte er bereits einige zuvor zu sich genommen haben, denn er wirkt ein bisschen wackelig auf den Beinen. Wie ein gealterter, schlecht aufgestellter Ken, bei dem die einzelnen Gliedmassen nicht mehr ganz ordnungsgemäss miteinander verbunden sind. Wir antworten auf sein "möge es zuträglich sein" mit einem halbherzigen Anheben unserer Gläser. Jetzt muss der Texaner aufsatteln, denn das sture deutsche Publikum verweigert sich. Er sagt, er würde mir jetzt einen Trick verraten. Ich bin gespannt. Er sagt, wenn ich einmal von der Strasse weg irgendwo auf eine Toilette müsse, so solle ich in einer Kneipe fragen, ob ich ein Bier umsonst bekäme. Lautet die Antwort nein, so solle ich fragen, ob ich die Toilette benützen dürfe. Wenn ich hingegen ein Bier umsonst haben wolle, so solle ich mit einer Gitarre in eine Kneipe gehen und dort fragen, ob ich für die Gäste spielen dürfe. Lautet die Antwort nein, so solle ich Fragen, ob ich ein Bier umsonst bekäme; danach könnte ich dann auch umsonst auf´s Klo. Irdisch-weiser weisser Mann! Ich bin beeindruckt und für den restlichen Abend bedient!

Blieskastel, 02. Juli 2012

Nach über 250 Jahren Bergbaugeschichte nahmen am Samstag, den 30. Juli 2012, mehr als 10.000 Menschen in Ensdorf auf der Anlage Duhamel, sichtlich betrübt, Abschied vom Steinkohlebergbau an der Saar. In der "Saarbrücker Zeitung", heute morgen, eine 10-seitige Sonderbeilage und Bilder wie von einem Staatsbegräbnis.



Im SWR 1 wurde dann abends das quälende Geheimnis um das in der unmittelbaren Nähe der Abschiedsfeierlichkeit veranstaltete Feuerwerk gelüftet, das viele der Kumpels als zynisch und unpassend empfunden hatten. Den ganzen Tag über hatte man im Radio schadenfrohe Umweltschützer im Verdacht; Dann stellte sich heraus, dass es sich um ein genehmigtes Feuerwerk gehandelt hatte. Der schlichte Anlass: die Eröffnung eines Tattoostudios.

Des einen Leid, des anderen Freud. Die Welt ändert sich eben:

"Kurz vor 1850 waren in Marseille 4-5 Miniaturmaler tätig, von denen sich aber nur zwei eines gewissen Rufes erfreuten. Diese Künstler verdienten gerade ihr Auskommen, wenn sie in einem Jahr ungefähr 50 Miniaturportraits fertiggestellt hatten. Wenige Jahre später besaß Marseille 40 bis 50 Photografen, von denen sich die meisten der Portraitfotografie widmeten und dabei jeder von ihnen mehr verdiente und eine sicherere Existenzgrundlage hatte als einer der 5 Miniaturisten je zuvor. Jeder der 50 Photographen produzierte im Jahr durchschnittlich 1000 bis 1200 Photographien, die er zu einem mittleren Preis verkaufte, ungefähr 15 frs. das Stück." (Gisèle Freund, Photographie und Gesellschaft )

Ravenburg, 07. September 2012

Sommergras
ist alles, was geblieben ist
vom Traum des Kriegers.

Matsuo Basho

Dürnau, 29. Oktober 2012.

Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Unwahrheiten! Albert Camus betrachtete sich selbst als Literaten, nicht als Philosophen. Sein angestrebtes Lebenswerk blieb unvollendet: "eines Tages ein Buch schreiben, das den Sinn gibt" notierte er in sein Carnet. Aber welchen Sinn und für wen? Sein im Frühwerk (Der Fremde) geschickt versteckter, im Spätwerk (Der Fall) offen zu Tage tretender Agnostizismus ist eine finstere Sackgasse. An Albert Camus offenbart sich die Tragik des französischen Geistes. Hätte er noch sein Buch über die Liebe schreiben können, vielleicht hätte er... ? Vielleicht wäre er...?

Bonn, 30. Mai.1990

"Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten". "Der Mythos des Sisyphos", Albert Camus

31. Januar 2013, bei Tempo 200, irgendwo zwischen Hannover und Stuttgart

Jeder kennt die Atmosphäre im ICE. Die Stimmung ist gedämpft, die Barbarei des Reisens scheint hier endgültig überwunden zu sein. Der Zug rauscht schnell und leise durch die Nacht dahin, es ist ruhig im Abteil. 
Doch diesmal ist es anders: am Telefon, direkt hinter mir, beendet eine junge Frau gerade ihre Liebesbeziehung. Der dunkle Schatten der Venus in voller Montur. Das hässliche Gespräch zieht sich über 45 Minuten hin und ich wünsche mir, der Mann, der die Tickets kontrolliert, würde mich bewusstlos schlagen. Auch der Nachwuchs im Abteil ist rege unterwegs, nicht nur in Richtung des Fahrziels: unweit meines "Prometheusfelsens" spielen drei vollkommen übermüdete Kinder, die ständig von ihren Eltern dazu ermahnt werden müssen, leiser zu sein. 
Ich versuche "Schiffbruch mit Tiger" zu lesen. Obwohl meine Augen fleissig Buchstabensuppe löffeln, wandert meine Aufmerksamkeit zeitweise bis zu den Fixsternen aus. Nicht nur ich und der Protagonist, auch das Buch hat Durststrecken. Ich bin müde. Schiffbruch, nur ohne Tiger. Life of Pi. 
Irgendwo im Abteil sitzen drei Rentnerinnen und diskutieren über die Operation einer Nachbarin, als wären sie vom Fach. Die Zombietruppe ist ein wandelndes Lexikon der Schlachthaus-Medizin. Ich will von alledem nichts wissen. Merke: sterbe schnell wie ein Samurai. 
Nein, das ist kein Klischee: in der Reihe neben mir sitzen zwei junge Bayern in Lederhosen. Ihr Klapptischchen ist mit Bierdosen vollgestellt. Ihre kleinen grünen Hütchen sind mit Rasierpinseln geschmückt. Einer von ihnen bläst hin und wieder leise in seine Mundharmonika. Einfach so. Wunschkonzert, nur ohne Wunsch. Ich möchte ihn fragen, ob ich mir "Spiel mir das Lied vom Tod " wünschen darf.
Das Ende vom Lied kennen Sie?
Es geht nicht gut aus!

Dürnau 31.10.2008

Das Knie ist das grösste Gelenk des Menschen und stellt die bewegliche Verbindung zwischen Ober- und Unterschenkel dar. Es besteht aus dem Kniescheibengelenk und dem Kniekehlgelenk. Anatomisch betrachtet zählt auch das Gelenk zwischen Schienbein und Wadenbein zum Kniegelenk.
Das Knie kann kurzfristig bis zu 1,5 Tonnen Gewicht aushalten und gehört zu den anfälligsten Gelenken des Menschen. Mit dem Älterwerden geht oft ein schmerzhafter Verschleiss des äusserst komplexen Gelenkapparates einher. Wo das Kleinkind noch mühelos auf den Knien über den Boden robbt, erzählt man sich im Alter gern den Witz, das man seine körperliche Konstitution an den eigenen Überlegungen erkennt, was man am Boden noch alles erledigen könnte, wo man schon einmal gerade dabei ist, sich die Schnürsenkel zu zu binden. Der Akt in die Knie zugehen, die Aufrechte zu verlassen, wird immer mehr zu einer bewussten Entscheidung.
Der Boxer hingegen fällt diese Entscheidung in der Regel nicht selbst, er geht in die Knie, weil er von seinem Gegner in die Knie gezwungen wird. Bei anderen Ereignissen fallen Menschen aus Dankbarkeit für errungene Siege auf die Knie. In die Knie zu gehen ist also sowohl eine Geste des grössten Sieges als auch eine Geste der äussersten Niederlage. Knien ist Ausdruck der Kehrseiten ein und der selben Medaille. Am 7. Dezember 1970 führte Willy Brandt diese Tatsache mit seinem ungeplanten Kniefall vor dem Mahnmahl des Warschauer Ghettos eindrucksvoll vor. Von Papst Johannes XXIII stammt der Satz: "Nie ist der Mensch grösser, als wenn er kniet".

In die Knie geht man aber nicht nur physisch. In die Knie gehen kann auch bedeuten nachzugeben, sich zu ergeben, aufzugeben, manchmal auch verbunden mit Kapitulation oder Resignation.
In die Knie geht manchmal auch der, der sich fügt. Knien ist eine Demutshaltung, die in Verbindung mit dem Neigen des Hauptes zur Erde, Ehrfurcht vor einem höheren Prinzip ausdrückt. Besonders leidenschaftlich tritt uns diese Geste in den Freitagsgebeten des Islam entgegen. Auch in den östlichen Religionen gilt das Knien häufig als Voraussetzung für die Konzentration bei der Meditation. Aber nicht nur die kniende Haltung und der geneigte Kopf gelten als Demutsbezeugung, sondern auch der gesenkte Blick, der sich aller Neugierde enthält.
Der "Knicks" als weibliche Höflichkeitsform herbeigeführt durch ein leichtes Einknicken der Knie bei gleichzeitigem Beugen des Nackens findet seine Entsprechung bei den Männern im "Diener". Beides Gesten der Ehrerbietung.

In die Knie geht nicht nur wer betet, sondern häufig auch derjenige, der den Boden bearbeitet.
Das "laborare est orare" das die aus dem Benedektinerorden hervorgegangen Zisterzienser in der Abgeschiedenheit ihrer Klöster täglich begleitete weist auf den Zusammenhang dieser beiden Tätigkeiten hin. Wer sich freiwillig kniend der Erde zuwendet überwindet seinen Hochmut gegenüber den "niederen Tätigkeiten" die häufig mit dem Verlust der aufrechten Haltung einhergehen. Beim Boden wischen, Unkraut jähten, beim Pflanzen, wendet der Mensch sein Angesicht notgedrungen der Erde zu. Somit verliert er ein Stück weit den Überblick über die ihn umgebende Situation.
Der der Erde zugewandte Körper ist also eine kontemplative, nach innen gerichtete Geste. Eine der berühmtesten Gesten dieser Art kennen wir von unser 50 Pfennig-Münze.

Gerda Johanna Werner beim Pflanzen einer Eiche:


Dürnau 01.10.2008

Es handelt sich hier um ein grobes Konzept und um die Darstellung einer Idee zu einer Gedenktafel für die Verstorbenen und für die hinterbliebenen Menschen des Bad Reichenhaller Halleneinsturzes im weitesten Sinne.
Die Tafel hat in etwa Menschengröße und ist zweigeteilt. Die linke Hälfte besteht aus einer Glasscheibe, in die die 15 Namen der Verstorbenen eingraviert werden können. Diese Seite gehört den Toten. Ihre Namen und ihr Schicksal haben nicht nur das Leben der Hinterbliebenen geprägt, sondern auch das Leben der ganzen Stadt Bad Reichenhall. Dieses Leben ist stets durch das Glas sichtbar. Es nimmt auf dem Hintergrund der eingravierten Namen seinen Lauf. Gleichzeitig weisen uns das Glas und die Namen der Verstorbenen aber auch auf die Möglichkeit hin, dass vielleicht das Wesen der Verstobenen in einer für uns nicht sichtbaren Form fortbesteht. Und dass es vielleicht auch nach wie vor Anteil hat am Leben der Stadt, am Schicksal der dort lebenden Menschen. Diese Wirklichkeit ist uns verborgen, aber vielleicht können wir sie erahnen.
Die rechte Seite der Tafel besteht aus Stein oder Metall. Sie gehört den Lebenden. Sie weist uns darauf hin, dass wir, trotzdem wir mit einem Geiste begabt sind, der nicht physischer Natur ist, eben auch einen Leib haben, der in dieser physischen Natur verwurzelt ist. Mit allen seinen Möglichkeiten, aber auch Grenzen, die diese Welt uns bietet. Das verbindende Element der Gedenktafel und ihrer beiden dargestellten Welten, die sich in uns vereinigen können, ist die menschliche Gestalt oder der Mensch. Diese Gestalt verbindet beide Teile der Tafel, sie zeigt sich auf der rechten Seite in den 3 Dimensionen als angedeutete Plastik und auf der linken Seite als in das Glas eingeritzter Umriss in der Ebene. Gleichzeitig deutet diese verbindende Gestalt auch an, dass der Teil, der mit den Verstorbenen verbunden ist, auch ein Teil von uns selbst ist, dass die Verstorbenen eben auch ein Leben in uns weiterführen in Form von Erinnerungen, die wir an sie knüpfen. Trotzdem wir auf der Erde weiterleben.

Korsika, Ponte Leccia, 19.10.1989

Hinter Ota folgten unsere Füße der Strasse in Richtung Porto. Die Hänge waren bewachsen mit Olivenbäumen, die eine eigenartige Faszination auf mich ausübten, wie etwas, das mir innig vertraut war und das ich über alles liebte. Auf diese Olivenbäume zu blicken löste in mir das Gefühl aus, in die Heimat zurückgekehrt zu sein. Dabei war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich ganz bewusst einen Olivenbaum wahrnahm. Das silbrige Blattwerk, seine schön geformten jahrhundertealten Stämme und das Licht, das in dem dichten Laub spielte, wirkten wie eine Droge. Plötzlich schien die Realität in weite Ferne gerückt. Das Licht in dieser Gegend war von einer übernatürlichen Schönheit und zugleich von einer fast greifbaren physischen Gegenwärtigkeit. Es zog mich hinaus in die Weiten der Welt, vollkommen ins Irdische, ohne dass ich mich selbst dafür aufgeben musste oder mich ans Irdische gefesselt fühlte.

Toulouse. 27.05.1991.

Es ist Frühling in der 11 rue de la chaine. Die Temperaturen sind für diese Jahreszeit erträglich. Die Sonne scheint, aber nicht so hermetisch, dass man nur noch dumpf über die Sinne hin vegetiert wie ein Tier. Die Gasse, in der wir leben, führt durch eine lange, enge Häuserschlucht. Bei weit geöffneten Fenstern fliesst das Leben an Tagen wie diesem wie ein Musikstück durch die Bewohner unserer oft im Scherz als „Chartreuse“ bezeichneten Behausung hindurch. Die Geräusche haben Hall aber keine Klarheit, sie dringen an unser Ohr wie durch einen Teppich. Vögel zwitschern, eine Autotüre wird zugeschlagen. Am Himmel das Geräusch eines Helikopters. Autos rauschen gleichgültig an unseren Fenstern vorbei, plötzlich durchmischt von einem anfänglich leisen tack, tack, das sich immer weiter nähert. Eine Frau mit Absätzen, ein Rhytmus im metropolen Orchester, menschengemacht. Ich bleibe träge auf meinem Bett liegen. Der leise Wind, der durch mein Zimmer weht, streicht über die Haut wie kühlender Samt. Ich fühle mich umarmt und geborgen im Ozean der dahinströmenden Zeit.


Dürnau, 18.12. 2005

Wir lesen und besprechen die "Nikomachische Ethik" des Aristoteles und befinden uns im Zehnten Buch, zweites Kapitel, Absatz 10-25.
Aristoteles beschäftigt sich mit Eudoxus Ansichten über die Lust. Eudoxus setzt die Lust dem Guten gleich, weil er alle, vernunftbegabte und vernunftlose Wesen, danach streben sieht. Anhand dieses Strebens postuliert Eudoxus, dass das von allen am meisten Begehrte wohl das Beste sein müsse. Am meisten aber ist begehrenswert, was wir ohne Zweck begehren, denn dann ist das Gute keinem Zwecke mehr unterworfen, sondern steht für sich selbst.
Man fragt ja auch nicht nach dem Zweck der Lust oder der Freude, höchstens nach der Ursache, und akzeptiert somit, dass die Freude Zweck an sich ist. Man freut sich einfach.
Jede Tätigkeit, die mit Freude ausgeführt wird, macht eine Tätigkeit begehrenswerter. Man kann zwar Freude an dem Ergebnis einer Tätigkeit haben, aber dieses sagt nichts über die innere Haltung aus, mit der ich der Tätigkeit nachgegangen bin. Begehrenswerter ist aber die mit Freude ausgeübte Tätigkeit, denn nicht die Tätigkeit ist das Gute, sondern die Freude an sich.
Das ist ein schwer zu ertragender Zustand, da wir stets wie getrieben werden, den Dingen Sinn und Zweck zuzuweisen. Die Freude an der Freude die stetig wächst("nun wachse aber das Gute nur durch sich selbst") wird selten empfunden. Bei einem Sonnenaufgang sind wir gern geneigt dem Ereignis etwas anzuhängen, unser Hirn setzt sich in Bewegung, wir suchen nach Worten, denken, wir hätten Freude an der Reinheit des Himmels oder seinen prächtigen Farben. Oder schlimmer noch, wir sehen mit der steigenden Sonne bereits die Hitze des kommenden Tages heraufziehen. Damit vertreiben wir in uns die Freude, indem wir das Ereignis nicht mehr einfach nur anschauen, sondern derart mit ihm in Beziehung treten, dass wir es bewerten.
Dieses Bewerten in uns gleicht einem tierähnlichen Reflex, der nicht mehr unserem freien Willen unterliegt. Noch vor der Erfahrung wird über das Ereignis, das wir betrachten, ein Urteil gefällt. Dieses reflexartige Urteilen über Vorgänge in unserer Innen- oder Aussenwelt entfernt uns von dem eigentlichen Ereignis und macht somit auch die vorurteilslose Freude an dem Ereignis an sich zunichte.

Dürnau, 08.03. 2005

Der zweirädrige Servierwagen ohne Stützen. U. behauptet, sie hätte so ein Teil schon einmal gesehen. A., D., I., J. und ich haben so unsere Zweifel. Schwierige Situation für U., denn sie muss nun ihre Behauptung gegen vier Ungläubige verteidigen. Das geht am besten mit einer Zeichnung


Diese hätte zwar in der modernen Kunst durchaus ihren Platz, ist aber leider wenig hilfreich zum Verständnis.

Auch ein zweiter Versuch


scheitert am Unverständnis der breiten Masse, die die Möglichkeit eines zweirädrigen Servierwagens einfach nicht in den Schädel kriegen will. Aber als Material für absurde Vorstellungen erweist es sich durchaus als tauglich. Was wäre wenn es diesen Wagen wirklich gäbe? Das Servieren bei Tisch wäre erheblich einfacher. Man müsste die Ladung einfach nur abkippen. Auch das Verkaufsargument 50% Räderersparnis und damit eine erhebliche Reduzierung des durchschnittlichen Verkaufspreises von Servierwagen berauscht uns und lässt uns weiter nach Vorteilen einer solchen Konstruktion suchen. Schliesslich gelangen wir jedoch zu der Erkenntnis, dass entweder U.'s Erinnerung versagt haben muss, oder aber alles nur eine falsche Einschätzung der Perspektive oder eine falsche Deutung der Realität war. Was wäre, wenn U. in Wirklichkeit eine zweirädrige Dampfwalze an sich vorbeirollen sah und das Zuprosten des Fahrers mit einer Bierflasche falsch interpretiert hätte? Fragen gibt es viele und auch U.  findet auf die Schnelle keine passende Antwort. Selbst miniaturhafte Bauteile, die als Modell fungieren sollen helfen nicht weiter, sondern verwirren uns nur und unterstreichen die Tatsache, dass ein Servierwagen auf zwei Rädern ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber das hält U. nicht davon ab, weiterhin fest an seine Existenz  zu glauben. Einen aussagekräftigen Beweis ist sie uns allerdings bisher schuldig geblieben.

Peru, Atalaya, 22.06. 1992


"Die Strasse war zu Ende. Von hier aus ging es nur noch über den Rio Urubamba weiter in den Dschungel Richtung Norden. Keine Ahnung was mich geritten hat dieses gottverlassene Nest am Rande der Zivilisation aufzusuchen. Viele Möglichkeiten gab es nicht und so blieb mir nur die Flucht nach vorn. Ich fragte mich durch, verhandelte und schliesslich fuhr mich ein alter kahlköpfiger Haudegen aus Tinti für bare Münze ein Stück den Fluss hinunter.
Mit seinen unfreundlichen Männern und den bis zum Rand mit Ried beladenen Booten brachen wir nach dem Mittagessen auf. Als es zu dunkeln begann, legten wir an. Ich tastete mich in der Finstenis einen Pfad hinauf zu einem Licht empor und erreichte erschöpft ein in den Urwald gestampftes Haus. Ein fahles Kerzenlicht beleuchtete verwegene Gesichter. Man lud mich an einen Tisch und gab mir einen Teller mit Suppe. Der Alte, ein Maricon vermutlich, wurde plötzlich unfreundlich und ich hatte den Eindruck, man machte sich in der Runde in Quechua über mich lustig. Als ich barsch fragte ob er etwas gegen Gringos habe, wurde er freundlicher (Bonito es!). Eine Frau, 23 Männer und ein paar in Lumpen gekleidete Kinder. Ich fühlte mich fremd und ausgeliefert und doch irgendwie zuhause angekommen."

Osoyoos, Kanada, 05.04. 1992

Der Mond voll und kein Gefühl für Zeit. Es ist ein Uhr. Ich kann in meinem Zelt nicht schlafen und gehe mit zwei herumstreunenden Franzosen in die Innenstadt von Penticton. Auf dem Bürgersteig kommen uns Leute entgegen und plötzlich es gibt grundlos eins auf die Fresse. Ich werde wie immer in Ruhe gelassen, aber einem der Franzosen fehlen offensichtlich zwei Schneidezähne. Sie verschwinden aufs Revier. So etwas passiert also nicht nur auf der Leinwand.
Kanada, nettes Land. Ich gehe zum Zelt zurück. Ich kann immer noch nicht schlafen, packe mein Zeug und spaziere ziellos durch die kalte neonblickende Stadt. Keine Seele weit und breit. Nur ein Donut-Laden schiebt 24 Stunden-Schicht. Ich werde von einer masslos überernährten Verkäuferin bedient. Ich könnte heulen. Nicht weil ich mich so elend fühle sondern weil ich von so viel Elend umgeben bin. Drei Uhr. Mir reichts. Aber wohin? Ich bin immer noch nicht müde und verbringe am Ortsausgang einige Stunden vor einer Tankstelle. Gegenüber befindet sich eine gigantische Shoppingmall. Ich Rrauche und auf einmal sehe ich sie glasklar vor mir, diese selbstzerstörerische, kulissenhafte, auf Genuss und Bluff aufgebaute Lebensphilosophie Nordamerikas.
Ich verlasse Penticton ohne mich von irgendjemand verabschiedet zu haben. Morgens um sechs stehe ich bei Sonnenaufgang an der Strasse Richtung Osoyoos. Ein Lift nach Oliver. Ich habe höllische Kopfschmerzen, bin reif das Land für immer zu verlasssen und plötzlich beschenkt mich Kanada wieder. Ein Pickup hält und kurz bevor ich endgültig in dem amerikanischen Scheisshaus zu versinken drohe macht mir sein Fahrer ein Angebot: ich soll seinen verhinderten Kollegen bei der Traubenernte ersetzen.

Witten, Deutschland, 07.01. 1993

Hilfsarbeiten beim Zusammenbau eines Schrankes: Führungsschienen für Schiebetüren angebracht. Schubkastenführungen befestigt. Auf- und Abbau von Teilen des Schrankes. Löcher für Einlegeböden gebohrt. Auflageleisten für Einlegeböden angebracht.
Glasleisten für Türen gehobelt.

Slavianagorsk, Ukraine, 20. 07. 1994

Heute vor 25 Jahren wurde ich getauft. Heute vor 50 Jahren misslang Stauffenbergs Attentat auf Adolf Hitler. Und ebenfalls heute vor 25 Jahren setzte der Mensch zum ersten Mal seinen Fuss auf die staubige Oberfläche des Mondes. Was für ein Datum!
Ich bin in den Osten gezogen um die Welt zu retten! Etwa drei Dutzend Jugendliche und ich verwandeln eine Turnhallenruine in eine Krankenstation.
Dieser so genannte "Schürmannbau" mit seinen ganzen Unmöglichkeiten ist ein Paradies für Improvisationskünstler. Vorausgesetzt natürlich, man ist einer.
Um neun Uhr beginnt meine Odyssee durch Kisten und Schubladen unseres Werkzeuglagers um alles notwendige Arbeitsgerät aufzutreiben. Voller Elan mache ich mich an die Arbeit. Ich will Türblätter einbauen. Nachdem ich halbwegs alles beieinander habe merke ich, dass es zwar Türblätter gibt aber dass die Türrahmen fehlen. Also muss ich umdisponieren. Ich beschliesse Fensterrahmen einzusetzen, aber sämtliche Bohrer sind verschwunden. Genervt gebe ich meine Vorhaben auf. Ich schaue mich nach neuen Aufgaben um. In der Krankenstation wird gefliest, jeder steht jedem im Weg und einer mehr der im Weg steht ist so überflüssig wie ein Loch im Kopf.
Scheinbar müssen es doch die Türen sein. Der zweite Schreiner konzentriert sich im Alleingang auf ein Klettergerüst und an eine Krankenstation ohne Türen ist nun mal nicht zu denken. Erst gegen zwölf finde ich den richtigen Drive. Zuvor muss ich mich noch damit abfinden das hier in der Ukraine keine deutschen Standards zu verwirklichen sind. Ich beginne also ungehobelte Bohlen mit einer Handkreissäge aufzuriegeln um sie weiter zu Türblockrahmen zu verarbeiten. Abgerichtet werden die Riegel anschliessend nach alter Väter Sitte mit dem Handhobel. Ein Trauerspiel. Ich muss einfach einsehen, dass ich in einer Gesellschaft des Mangels lebe, und warum soll es mir da besser ergehen als den Ukrainern um mich herum. Einen Haken hat die Sache dennoch: der Mangel an geeignetem Arbeitsgerät zieht einen Mangel an Motivation nach sich. Der Motivationsmangel plus miserables Werkzeug lässt dann Werkstücke entstehen die eine Schande für jeden ernsthaft arbeitenden Handwerker sind, was wiederum zu noch mehr Motivationsmangel führt. Aber Motivationsmangel darf heute kein Grund sein das Unmögliche zu versuchen. Schliesslich jährt sich der 25. Jahrestag der Mondlandung und was früher unmöglich erschien, ist heute selbstverständlich. Und auch wenn Stauffenbergs Attentat auf Hitler fehlschlug, so wurde ich heute doch einmal wieder getauft.

Aldalen nähe Vatne, Norwegen, 17.08. 1995

Ich lebe. Vor der Hütte blöken die Schafe und bimmeln mit ihren Glöckchen. In das Tal fällt, von den Gipfeln der Bergriesen im Westen begrenzt, die Sonne und erhellt den silbrig schimmernden See. Die im Osten majestätisch aufschiessende Felswand verschwindet in der nebligen Ungewissheit eines Wolkenmassivs. Es ist mild draussen. Der Himmel zeigt stolz seine Palette von Grau bis blau und die Erde leuchtet in kräftigen Grüntönen. Das Rauschen der hinabstürzenden Wasserfälle erfüllt das Tal mit einem ewig erhabenen Klang. Auf dem Ofen brodelt das Teewasser. Mein Körper ist erschöpft, überhitzt, fast fiebrig, aber mein Geist ist klar und meine Hand willig den Stift über´s Papier zu führen.

Bochum, Deutschland, 09.03. 1996

"Diva" von Dirk Dubrow im Bochumer Schauspielhaus. Zuerst wollte ich das Stück in die Sparte der Dramen stecken ("Blinde Kuh", "Vaterliebe") doch es war uneinheitlicher als diese und die letzte Szene mit der Diva passte dann gar nicht mehr zum vorhergehenden Teil. Kurz, ich hatte wenig verstanden und erst ein Hinweis des Regisseurs Gil Mehnert gab mir die nötigten Informationen. Das ist schon mal oberfaul wenn man sich eine Inszenierung erklären lassen muss.
Die Diskussion im Anschluss an das Stück war ebenfalls wenig produktiv. Der Tiefpunkt war erreicht als Fragen wie "warum hat der Schauspieler Hoden statt Eier gesagt", geklärt werden mussten. Ich schaltete ab weil das Gespräch auf Nebengleise geriet. Doch dann sorgte die Seniorin des Hauses wieder für Wirbel und ich erwachte aus meiner Lethargie. Tana Schanzara nötigte den "Barkeeper" eine Runde Weisswein zu servieren, was der dann auch bald in Plastikbechern in die Tat umsetzte. Oberguru Leander Haussmann kam erst später zur Diskussion. Er räucherte sich so mit Eigenlob ein das er fast gar nicht mehr zu sehen war. Diese Theaterfuzzis sind alle nicht ganz dicht. Ohne Zweifel hat Uwe Dag Berlin gut gespielt. Aber deshalb muss man doch noch nicht gleich daraus schliessen, dass das ganze Ensemble toll ist!

Dornach, Schweiz, 27.09.1996

Das Feuer des Choleriker schneidet im Reigen der vier Temperamente gemeinhin schlecht ab. Man stellt ihn gern als den Wüterich dar, der im Zorn seine eigenen vier Wände in Schutt und Asche legt. Dabei wird oft vergessen, dass er sich durchaus seiner destruktiven Kräfte bewusst sein kann. Wenn er an seinem Wesen arbeitet, sucht er nach Wegen seine Kraft zu ballen, sie zu konzentrieren und ist somit die eigentlich schöpferische Kraft unter den Temperamenten. Der Begriff der Potenz charakterisiert ihn wohl am besten. Der Choleriker liebt die Arbeit und hasst den Müssiggang. Für ihn muss die Welt ständig in Bewegung sein. Und wenn schon nicht die Welt, so wenigstens er selber. Träge Menschen sind ihm zu wieder. Er hat viel Initiative, und alles muss schnell in die Tat umgesetzt werden. Theorie und lange Debatten sind ihm fremd, langes hinauszögern der Tat macht ihn unruhig. Seine oft übereilten Aktivitäten laufen Gefahr ihm zu entgleiten und am Ende steht vor halben Sachen. Er ist am Ziel vorbeigeschossen. Dies führt dazu, dass er Tätigkeiten wiederholen muss und vieles gelingt ihm erst beim zweiten Mal, wenn ihm die Routine zur Hilfe kommt. Es ist dieses Scheitern an sich selbst, dass ihn so wütend macht. Der Choleriker ist bisweilen seinen Mitmenschen weit voraus, doch wird er mit der Zeit eingeholt weil sich auf seinem Weg in der Eile zu viele Fehler eingeschlichen haben, die dann seinen Amoklauf stoppen. Dann entlädt sich seine Wut über das "nicht weiterkönnen" in einer gigantischen Explosion, bis die Kräfte aufgebraucht sind und er wieder zur Besinnung kommt. Seinen Mitmenschen tritt er oft autoritär gegenüber und in seinem strotzenden Selbstbewusstsein meint er das allein-selig-machende Mittel in Händen zu halten. Die Weggenossen fühlen sich dann zur Seite gedrängt und übergangen. Der Choleriker liebt den Sport, die Bewegung, er ist ausgesprochen sinnlich und muss seinen Körper spüren, denn in seiner flammenden Begeisterung verliert er schnell den Boden unter den Füssen. Er ist stets bedacht, seine Grenzen (und auch die seiner Mitmenschen) auszuloten. Einmal an eine Grenze gestossen sucht er nach Mitteln und Wegen diese zu überschreiten. Keine Herausforderung lehnt er ab, auch nicht, wenn sie ein paar Nummern zu gross für ihn ist. Er ist furchtlos bis zum Leichtsinn und einmal von einem Ideal entflammt bis zur Aufopferung selbstlos. Er fürchtet weder Tod noch Teufel und körperlichen Schmerz schiebt er verächtlich zur Seite. Trotz seiner scheinbaren Oberflächlichkeit besitzt er häufig eine unergründliche Tiefe aus der er die Motive für sein Handeln schöpft.